Was wird einem nicht alles angedreht. Heizdecken, überteuerte Handytarife, Bonuspunkte an der Supermarktkasse. Und auch in der Musik allerlei Bedenkliches, zum Beispiel idiotische Fernsehsendungen, schlechte Instrumente, verheißungsvoll wirkende, aber doof geschriebene Bücher, Schneller-Höher-Weiter-Videos im Netz, und leider auch didaktisch fragwürdige Methoden.
Vor allem die Unsitte, erst einmal alle Fingersätze für eine bestimmte Tonleiter auswendig lernen zu „müssen“, ist weit verbreitet und macht auch vor professionellen Kreisen nicht Halt. „Das mußt du dir halt draufschaffen…“ – der pädagogische Vorschlaghammer. Ein Spruch, den ich bis zum heutigen Tag nicht verstanden habe. „Draufschaffen“ – was soll das bedeuten? Dass ich einen Fingersatz auswendig auf- und abwärts spielen kann, ohne dass mir das Pick runterfällt? Ich habe es nie kapiert. Ganz im Gegenteil, es hat für reichlich Frustration gesorgt: „Kein Wunder, dass ich noch nicht so spielen kann wie ich mir das vorstelle, wenn ich mir nicht mal die ganzen Fingersätze richtig merken kann und flüssig von einem Fingersatz in den nächsten wechseln kann…“.
Seither bin ich skeptisch. Ich will zeigen, dass es nicht erforderlich ist, erst fünf Fingersätze für eine bestimmte Tonleiter (Dur, Pentatonik, Melodisch Moll etc.) auswendig zu lernen, um damit mehr schlecht als recht auf dem Griffbrett herumzustochern, weil die grundlegende Orientierung fehlt. Die Folge: wenig Spaß am Spielen. Die gute Nachricht ist: Es gibt eine simple, aber sehr effektive Art, sich mit dem Griffbrett vertraut zu machen.
Da war es im letzten Absatz, das große Stichwort – Griffbrettorientierung. Und die ist heilig! Jederzeit zu wissen, wo man ist! Basis für gutes Spiel! Denn von einem (gedachten, nicht zwangsläufig auch gespielten) Grundton eines gegebenen Akkordes bzw. einer Tonleiter aus kann ich blitzschnell in alle Richtungen reagieren und brauche mich nicht auf einen Fingersatz zu verlassen, der mich in eine fixe Lage zwingt.
Als Ausgangbasis soll folgende Grafik dienen:
In diesem Beispiel geht es um den Ton G. Hier ist sehr schön ersichtlich, dass sich durch die beiden Dreiecke alle Positionen für G innerhalb der ersten zwölf Bünde darstellen lassen. Danach wiederholt sich diese Anordnung. Um diese beiden Dreiecke positionieren zu können, ist es überdies erforderlich, die Töne auf der tiefen E- und A-Saite zu können. Richtig – nicht nur zu kennen, sondern wirklich zu können! Bis hierher ein überschaubarer und vertretbarer Aufwand, wie ich finde.
Man braucht also lediglich zwei kleine Werkzeuge, um auf dem Griffbrett die Übersicht zu behalten. Nicht wie sonst immer, wenn der Tastendrücker in der Band irgendwann As-Dur aufruft. Hey, vier (!!!) Be als Vorzeichen, wer soll sich denn das alles merken … spiel‘ ich Kirchenorgel oder was? Und wir mit unseren sechs Saiten sind schon wieder längst „lost at sea“. Kommt euch bekannt vor? Gut. Mir auch! Ein praktisches Beispiel soll verdeutlichen, dass die Töne auf dem Griffbrett bei weitem nicht so chaotisch angeordnet sind, wie es scheint, sondern dem Ganzen eine innere Logik zugrunde liegt. Erfahrene Spieler mit souveräner Griffbrettübersicht haben diese Logik verstanden und verinnerlicht. Nehmen wir zum Beispiel die ersten fünf Töne einer Dur-Tonleiter. Im Beispiel handelt es sich um G-Dur mit dem Grundton im dritten Bund der tiefen E-Saite.
Nun sehen wir dieses Gebilde aus fünf Tönen als eine Art Schablone an, die sich an beliebiger anderer Stelle auf dem Griffbrett auch ansetzen läßt. Wenn diese Schablone für G-Dur in der dritten Lage gut ist, muß sich doch durch Anlegen dieser Schablone an andere Stelle – eben da, wo sich laut Abbildung 1 nochmal der Ton G findet – wieder der Ausschnitt einer G-Dur-Tonleiter fabrizieren lassen. Seht selbst:
Hier habe ich einfach dort, wo laut der beiden Dreiecke aus Abbildung 1 der nächste Ton G ist (D-Saite, 5. Bund), diese Schablone angelegt und erhalte wieder – nicht nur optisch, sondern auch klanglich – die ersten fünf Töne einer G-Dur-Tonleiter. Lege ich diese Schablone beim nächsthöheren „G“ erneut an, erhalte ich wiederum die fünf Töne, nochmals eine Oktave höher. Das nächsthöhere „G“ befindet sich im achten Bund der h-Saite und erzeugt folgende Ansicht:
Wenn ich nun die letzten drei Grafiken übereinanderlege, kommt folgendes dabei raus:
Dahinter verbirgt sich eine kleine Sensation: Die Töne jeder Tonleiter, jeder Tonart, jedes Arpeggios sind überall auf dem Griffbrett gleich angeordnet. Ich habe jederzeit die Möglichkeit, mich zu orientieren, ohne im Vorfeld stur Fingersätze auswendig lernen zu müssen. Jetzt exerzieren wir dieses Beispiel auch noch mit einer vollständigen G-Dur-Tonleiter durch.
G-Dur, Grundton 3. Bund E-Saite
G-Dur, Grundton 5. Bund D-Saite
Hier muß der Fingersatz auf der h-Saite angepasst werden. Dies wird erforderlich, weil das Intervall von der g- zur h-Saite nur eine große Terz beträgt und nicht wie zwischen den restlichen Saiten, eine Quarte.
Und wieder alles zusammengefügt ergibt diese Ansicht
Jetzt will ich diese Vorgehensweise noch mit der herkömmlichen Art und Weise, Tonleiterfingersätze präsentiert zu bekommen, vergleichen. Die Tonart G-Dur in der gängigen Art über knapp drei Oktaven aufgezeichnet sieht so aus:
Ich gehe jede Wette ein, dass es sich für Anfänger und unerfahrene Spieler schwierig bis unmöglich gestaltet, hier irgendeine Regelmäßigkeit oder gar innere Logik zu erkennen. Selbst die separate Darstellung der jeweiligen Lage macht es nicht besser:
Ich könnte jetzt noch mehr Punkte malen, für alle fünf Fingersätze flächendeckend auf dem gesamten Griffbrett, aber das spare ich mir an dieser Stelle. Und euch.
Wer sich die Mühe macht, die Dur-Fingersätze der herkömmlichen Aufteilung in fünf Positionen mal der Reihe nach durchzuspielen, wird feststellen, dass manche Fingersätze ganz easy, andere recht unkomfortabel zu spielen sind. Wetten, dass man die dann weniger übt. Oder gar nicht. Das allein wäre noch nicht mal schlimm. Schlimm ist, dass es in der E-Gitarrenliteratur fast schon common sense ist, dass man sich diese Fünferaufteilung des Griffbretts halt reindrückt. Was auch immer man damit anfängt. Muß ich mir wirklich fünf Fingersätze für alle Lagen von Harmonisch Moll aneignen, wenn ich einfach mal testen will, wie denn HM5 klingt ? (HM5 steht für Harmonic Minor Five, der fünfte Modus von Harmonisch Moll – das was der Yngwie den ganzen Tag über Dominanten in Molltonarten fräst)
Deshalb widerstrebt mir die eingangs zitierte Philosophie, wonach man sich Fingersätze halt einfach „draufschaffen“ muss – quasi auswendig lernen bis zum Hirntod. Logisch Denken und Kombinieren ist einfacher und effektiver. Als mein Lehrer vor gut 20 Jahren meinte: „Du brauchst auf der Gitarre nur logisch zu denken …“, kam es mir wie blanke Ironie vor. Mittlerweile weiß ich, was gemeint ist. Man darf es sich einfach, komfortabel und übersichtlich gestalten. Und auf der Bühne oder im Proberaum zählt sowieso nur sofort abrufbares Können. Da bleibt keine Zeit zum Überlegen.
Dann ist da noch ein Argument: Einfach mal ein paar der bekanntesten Solo-Fetzen der Rockgeschichte aufs Tonmaterial und den besten Fingersatz hin analysieren, und ihr werdet feststellen, dass auch die ganz, ganz großen Jungs sehr auf komfortable Fingersätze stehen – da is nix mit Fingerbrecher.
Mein Tipp: probiert dieses Anlegen von Schablonen auch mit der Pentatonik, mit der Blues-Tonleiter, mit Arpeggien (meine Favoriten: Dominant 7 sowie Moll 7b5!) und staunt, was dabei rauskommt!